Sonntag, 8. Januar 2017

Hilf mir, es selbst zu tun.... und wenn mein Kind nicht will?

Schon in der Schwangerschaft mit dem Sohn wusste ich, ich will meinem Kind wenig Hindernisse in den Weg stellen. Und das meine ich im wirklich, wie auch im übertragenen, Sinne. Keine Gitter, wo sie nicht wirklich zwingend nötig sind, vermeidbare Situationen, die immer wieder zu Diskussionen führen würden, die das Kind garnicht verstehen kann. Keine Neins, die nicht wirklich sein müssen.

Ich wollte meinem Kind so viel Raum wie möglich geben, um sich selbst entfalten und entwickeln zu können. Als der Sohn dann schon auf der Welt war, entdeckte ich die Lehren von Maria Montessori und damit wohl auch ihr berühmtestes Zitat, welches so ziemlich jeder mit ihr in Verbindung bringt:

Hilf mir, es selbst zu tun. Zeige mir, wie es geht. Tu es nicht für mich. Ich kann und will es allein tun. Hab Geduld meine Wege zu begreifen. Sie sind vielleicht länger, vielleicht brauche ich mehr Zeit, weil ich mehrere Versuche machen will. Mute mir Fehler und Anstrengung zu, denn daraus kann ich lernen.

Ich vertiefte mich seit dem in viele Texte von Maria Montessori, stellte fest, dass ich einiges schon ganz intuitiv übernommen habe und baute dies weiter, mit den Möglichkeiten, die ich habe, aus. Die Neugierde meines Sohnes, der Tatendrang und die Schaffenskraft, ebenso die unkomplizierte Beziehung zwischen uns Beiden, zeigte mir, ich lag damit richtig.
Ich bewunderte in vielen Blogs und Gruppen, was Kinder schon alles können, wenn ihnen die Gelegenheit und der Raum dafür gegeben wird. Es war einfach augenöffnend! Und doch gab und gibt es bei uns Dinge, bei denen ich mich von Beginn an schon fragte, wieso klappt das nicht? Wieso will der Sohn das nicht alleine machen? Ist es nicht der tiefste innere Wunsch unserer Kinder, erwachsen zu werden, selbstständig zu sein, alleine handeln und denken zu können?

Auch Jesper Juul bestätigte das in seinen Texten und hielt dazu fest:

Die beste Faustregel ist die, dass man niemals etwas für das Kind tut, was dieses auch alleine tun kann.

Was ist aber, wenn das Kind es erst garnicht tun will? Der Sohn zeigte lange, lange Zeit garkeine Interesse daran sich selbst An- oder Ausziehen zu wollen. Das ging schon als Baby los. Wo andere Kinder ständig ihre Socken auszogen, wieder und wieder und davon ganz angetan waren, ließ er alle Socken genau da, wo sie hinsollten, nämlich am Fuß. Beim Ausziehen oder Anziehen mitzuhelfen, das tat er irgendwann, aber selbst? Das er es eigentlich alleine konnte bzw. kann, stellte ich immer zufällig fest. Wenn er ganz schnell in die Badewanne wollte oder die Dusche, plötzlich war die Hose aus, die Socken usw..... oder wenn ich gerade mit etwas beschäftigt war und nebenbei erwähnte, er könnte sich schon anziehen, damit wir dann auch schnell rauskönnen auf den Spielplatz, da zog er sich an. Es waren immer Momente in denen ich garnicht damit rechnete, die mir zeigten "Aha, da kann mein Kind doch mehr, als er eigentlich zugibt!" Denn grundsätzlich hörte ich immer "Ich kann das nicht!"

Gleiches kann ich auch auf viele weitere alltägliche Situationen übertragen. Wir sollen mit ihm zur Toilette gehen. Ihm die Hände waschen. Die Zähne putzen. Ihn die Treppe hochtragen. Und Laufen ist grundsätzlich doof, langweilig und am Besten ist es doch wenn er getragen werden würde. Der Sohn wäre mit 4 Jahren, eines dieser Kinder, dass sich immer noch gerne im Kinderwagen schieben lassen würde.

Ich war wirklich überfragt. Wieso will mein Kind, das alles nicht alleine machen? Ich hab ihm doch nie die Möglichkeiten verwehrt, es selbst zu tun. Oft liest man schließlich, würde man seinem Kind alles abnehmen, ihnen dabei vielleicht sogar vermitteln, sie können das schließlich noch nicht, dass diese Kinder es eben irgendwann einfach sein lassen. Tja, und nun? Irgendwann war ich auch genervt. Ich kam mir manchmal wie ein kleiner Haussklave vor, der dem Sohn in allen Belangen zu Diensten sein sollte. Das kann doch nicht sein?

Schließlich las ich einen Artikel auf einem meiner absoluten Lieblings-Elternratgeber-Seiten: "Das gewünschteste Wunschkind" schrieb über Aufmerksamkeit und über die "Die fünf Arten von Liebe bzw. Aufmerksamkeit" und da war die Lösung. Plötzlich viel mir alles wie Schuppen von den Augen und alle Puzzleteile ergaben endlich ein Bild. Mein Sohn füllte seinen Liebes- und Aufmerksamkeitstank dadurch, dass er bei so vielen Dingen, wie möglich um Hilfe bat. Und zwar eben NICHT, weil er es nicht konnte, sondern weil er weiß, in diesem Moment, in dieser Situation, sind wir ganz für ihn alleine da. Er bekommt dabei nicht nur die völlige Aufmerksamkeit, sondern auch direkt Nähe und vielleicht die eine oder andere zuätzliche Kuscheleinheit. Und mir taten plötzlich all die Situationen leid, in denen ich so genervt war, wenn mich mein Sohn schon wieder für eine Kleinigkeit um Hilfe bat:

Leider haben es Kinder in der Regel schwer, wenn sie vom Hilfe-Aufmerksamkeitstyp sind, weil in unserer Gesellschaft schnelle Unabhängigkeit ein sehr befördertes Erziehungsziel ist. Kinder sollen schnell allein einschlafen, schnell selber essen, sich schnell selber anziehen... Eltern und Erzieher fördern und fordern das stark. Daher hören Kinder immer wieder: "Mach das bitte selbst". Wenn Du also ein Kind hast, das gerne Hilfe bekommt, dann sieh Deine Hilfe einfach als Kraftstoff für den Liebestank. Ja - Dein Kind könnte, wenn es wollte, es will sich aber viel lieber Deiner Liebe versichern.
  
Und auch in ihrem Buch "Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn: Der entspannte Weg durch Trotzphasen " (UNBEDINGT lesen!!! Da steht noch viel mehr zu diesem Thema!) schreiben Danielle und Katja darüber:
  
Denn der Mensch ist darauf ausgerichtet, sich weiterzuentwickeln und nach Selbstständigkeit zu streben - kein Kind möchte in der Baby- oder Kleinkindphase verharren. Alle stillen sich irgendwann ab, schlafen irgendwann im eigenen Bett und ziehen sich irgendwann auch selbstständig an. 
Wenn wir unseren Kindern morgens beim Anziehen helfen, dann lassen wir sie damit noch ein bisschen Körperkontakt und Liebe tanken und zeigen ihnen, wie freundliches Miteinander funktioniert. Nämlich nicht mit Druck und Drohungen, sondern indem man selbst mit anpackt, um das gemeinsame "projekt" zum Gelingen zu bringen. Wir leben Kooperation vor.

Damit schliesst sich wieder der Kreis zu den Lehren von Maria Montessori. Zu dem Streben jedes Kindes, erwachsen zu werden. Und auch meine Beobachtungen, die ich selbst gemacht habe, dass der Sohn vieles schon lange konnte bis ich es mal durch Zufall wahrnehmen durfte. Was ich aber auch feststellen konnte und das ist das, was Danielle und Katja in ihrem Artikel auch beschreiben, ist dass viele von uns meist Mischtypen bezüglich des Aufmerksamkeits- und Liebestanks sind. Auch dem Sohn gelingt es mehr "alleine zu tun", wenn sein Tank bis an die Decke gefüllt ist. Füllen kann ich diesen natürlich durch viel ungeteilte Aufmerksamkeit beim Spielen, Kuscheln, Vorlesen usw. Aber wie sicherlich jeder von uns weiß, nicht immer ist das im Alltag so machbar. An manchen Tagen geht dies einfach unter. Die Zeit dafür ist knapp. Und so kann es passieren, dass der Sohn am Tagesanfang noch so ziemlich alles alleine macht und gegen Ende des Tages, sicherlich auch geschuldet durch Müdigkeit und auch den vielleicht geleerten Aufmerksamkeitstank, plötzlich wieder bei jeder Kleinigkeit Hilfe benötigt. Auch sehr auffällig ist dies, wenn der Papa endlich nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommt, denn von diesem hat der Sohn an dem Tag bisher noch keine Aufmerksamkeit bekommen. Hier kann es nun immer etwas kritisch werden. Der Sohn will Aufmerksamkeit, der Papa will vielleicht erst mal runter kommen... ihr versteht?
Der Mann und ich erinnern uns in vielen solcher Situationen oft auch gegenseitig an den Liebestank. Wenn die Tochter den ganzen Tag an mir hing und mich voll forderte, muss ich schon sehr tief Luft holen, wenn mein Sohn dann noch plötzlich nichts mehr alleine kann... dann flüstert mir der Mann zu "Denk dran, er braucht dich. Das ist seine Art um Liebe zu bekommen." Puh! Ja, ich weiß und trotzdem ist es schwierig. Denn genau wie oben steht, dieser Hilfe-Aufmerksamkeits-Typ hat es in unserer schnelllebigen Gesellschaft wirklich nicht immer leicht, gerade wenn man doch weiß, der Gegenüber kann das doch eigentlich, oder?

Aber, wie wäre es... wenn ich spätabends schwer und müde auf der Couch liege und mir die Augen zufallen... wie oft habe ich da im Scherz schon zu meinem Mann gesagt "Trag mich hoch!" oder wie war es vorgestern: Nachdem die Tochter endlich schlief und ich mich auf die Couch plumsen ließ, bat ich den Mann darum mir doch bitte einen warmen Kakao zu machen.... hätte ich auch alleine machen könnnen, natürlich, aber ist es nicht so schön, umsorgt zu werden? Eine Art Liebesbeweis?

Ja, ich kann den Sohn sehr gut verstehen und so fällt es mir nun doch viel leichter, ihm die Hilfen zu geben, nach denen er verlangt und wenn es mir nicht möglich ist, wie ich dann mit seinem Frust umgehen kann. 

"Hilf mir, es selbst zu tun" ist ein wichtiger Leitsatz und ich werde auch weiterhin nicht uneingefordert Hilfe anbieten. Mit den jetzigen Erkenntnissen, werde ich aber auch nicht denken müssen, ich nehme meinem Kind zuviel ab. Ich muss nicht darüber nachdenken, ob ich mich falsch verhalte, wenn ich nachgebe, bei Dingen, die er alleine könnte. Ich muss einfach nur wissen, mein Kind braucht mich jetzt, um Liebe zu tanken , um sich geliebt zu fühlen. Sonst nichts und das ist so viel und so wichtig.

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Noch mehr Denkanstöße, zu meinem Leben mit Kindern, welche vielleicht auch deine Sichtweisen ändern können, findest du hier:

 

4 Kommentare:

  1. Danke, dein Text hilft mir gerade sehr ♡

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  2. Danke,DANKE,danke, liebe Sabrina für deine Worte und Gedanken zu diesem Thema. Meine Tochter ist ein bißchen älter, 6 3/4 😁, aber unsere Geschichte ist ähnlich. Ich habe mir schon so viele Gedanken gemacht, an Montessori gezweifelt, an mir gezweifelt, viel gelesen auf der Suche zu verstehen. Ich war viel hin- und her gerissen, ähnlich wie du und bin es auch noch. Ich habe nichts gefunden und habe dann versucht, mich auf mein Bauchgefühl zu verlassen, mich darauf zu verlassen, dass sie mir einfach zeigt, was sie braucht. Dadurch gelang und gelingt es mir besser. Ich danke dir für deine Worte, denn jetzt fühle ich mich richtig darin gestärkt! Im Herzen verbunden, Nadine

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  3. Gut zu wissen, dass das wohl "normal" ist. Machen wir mit unserem Dreijährigen auch gerade mit. Er hatte im Sommer zwei große Einschnitte zu verkraften: erst ein Geschwisterchen und im Monat darauf dann der Wechsel in den Kindergarten. Kein Wunder, dass er nicht so "funktioniert", wie es von Ratgebern, anderen Eltern, Erziehern etc. vorgesehen wird. Zurzeit leben wir im Kompromissmodus: Ziehst du ein Teil selbst an, helfe ich dir mit einem anderen. Oder: Sehe ich, dass du wirklich müde bist, ziehe ich dir Schuhe und Jacke aus. Darauf lässt er sich ein und wir sind alle entspannter.

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  4. Oh ich muss aus so danken ich habe die ganze zeit schon überlegt ob ich nicht genau diese frage mal in einer montessori Gruppe stelle. Bei uns ist es im Moment oft ganz genauso. Wir fangen Grade erst an montessori ins Haus einziehen zu lassen, wobei ich viele Monte grundsätze ganz unbewusst schon immer getan habe. Meine Tochter wird in 6Wochen schon 5jahre und hat Grade eine ganz fiese ich kann das nicht hilf mir Phase und ich wusste bisher auch nicht wie ich damit umgehen soll. Erst gestern hatten wir eine Riesen Diskussion über das ausziehen im Schwimmbad. Klar kann sie es mit 5jahren allein aber sie stellte sich richtig an und würde so wütend weil ich sagte ich muss mich selber ausziehen sie kann das doch alleine. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen das es vll daher rühren könnte das sie einfach ein wenig liebe und Aufmerksamkeit benötigt. Was angesichts das sie jetzt im Mai von 14tagen 9 nicht zu hause verbracht hat und bei der Oma und Freunden schlafen musste weil mann und ich leider so doof arbeiten mussten das es anders nicht ging...Ich danke für einen Beitrag bitte mehr von solchen wie man Montemässig mit solchen Phasen und Situationed umgehen kann. LG Jessy

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