Donnerstag, 5. Februar 2015

Montessori ist nicht laissez-faire!

Gerne schreibe ich über die Selbstbestimmung und wachsende Eigenständigkeit meines Kindes, wie ich damit umgehe und wie unser Alltag aussieht. Oft werde ich dann gefragt, wie das denn überhaupt möglich und umsetzbar ist? Man könnte das Kind doch nicht alles alleine entscheiden und machen lassen. Man könnte doch sein Leben nicht komplett auf das Kind ausrichten, weil es nicht das möchte, was ich nun eigentlich wollte und überhaupt, wo kämen wir denn da hin? Gerade mein letzter Artikel "Eigenständig und selbstbestimmt = Problemkind?" wirbelte diese Fragen wieder auf. Es wurde sogar geschrieben: "Hab schon oft gesehen was aus solchen Kindern später wird: Extrem egoistische und asoziale Mitglieder der Gesellschaft."

Ich frage mich dann immer wieder, wie ich oder auch Maria Montessori so falsch verstanden werden können? Nie habe ich bisher geschrieben, dass sich in meinem Leben alles nach meinem Kind und ausschließlich nach seinen Wünschen richtet? Auch Maria Montessori schreibt dies nicht, wenn sie von "der Freiheit des Kindes" spricht! Ich habe mir überlegt woran könnte dies Fehlinterpretation liegen? Maria Montessori schreibt zum Beispiel:

Wird das Kind in seiner Entwicklung durch das Unverständnis des Erwachsenen gehemmt und gestört, so werden die Energien im Innern des Kindes, die göttliche Mittel zur Menschbildung sein sollten, zur Verteidigung gegen den Erwachsenen benutzt und führen zur Zerissenheit der wachsenden Persönlichkeit, zum Kampf statt zur Liebe.

Er (der Erwachsene) muss passiv werden, damit das Kind aktiv werden kann. Er muss dem Kind die Freiheit geben, sich äußern zu können; denn es gibt kein größeres Hindernis für die Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit als einen Erwachsenen, der mit seiner ganzen überlegenen Kraft gegen das Kind steht.

So entsteht dem Kind die Möglichkeit, selber zu handeln. Und die eigene Handlung wird Willensäußerung. Ohne den Vollzug einer Handlung ist keine Willensäußerung möglich. Das Willensleben ist das Leben der Tat. Unsere Kinder leben und handeln frei und selbstständig in der Gemeinschaft [...] und werden so zu willensstarken sozialen Wesen, die selbst die Anforderungen an ihr eigenes Tun immer höher schrauben.

Die Freiheit ist dann erlangt, wenn das Kind sich seinen inneren Gesetzen nach, den Bedürfnissen seiner Entwicklung entsprechend, entfalten kann. Das Kind ist frei, wenn es von der erdrückenden Energie des Erwachsenen unabhängig geworden ist.

Es ist, als ob mit der Selbstständigkeit die natürliche Würde wüchse; die Kinder werden unabhängig und frei und kommen zu einer Beherrschung ihrer Persönlichkeit und gegebener Situationen, die man bis dahin niemals einem Kind zugetraut hat.

Die kindliche Lernweise kann also vom Erwachsenen nicht Schritt für Schritt geleitet werden, weil es nicht der Erwachsene ist, sondern die Natur, die in dem Kinde ein jeweils verschiedenes Verhalten, seinem Alter entsprechend, bestimmt.

Die Kinder in Ruhe lassen, sie nicht in ihrer Wahl und ihren spontanen Arbeiten hemmen - das ist alles, was man verlangt.

Na, was denkt ihr jetzt? Ich glaube einigen steht nun der Mund offen und fühlen sich sicherlich in ihrer bisherigen Annahme bestätigt. Montesssori ist doch laissez-faire! Montessori schreibt, wir müssen die Kinder in Ruhe lassen, unsere erdrückende Energie würde sie in ihrer Entwicklung hemmen und überhaupt, sind nicht wir Erwachsene es, die unseren Kindern helfen ihre Persönlichkeit zu entwickeln, sondern die Natur alleine. Uff, ein paar harte Brocken die uns Maria Montessori da vorwirft, stimmts?

Jetzt nehmen wir aber ein ganz bestimmtes Zitat von Maria Montessori hinzu:

Die Freiheit unserer Kinder hat als Grenze die Gemeinschaft, denn Freiheit bedeutet nicht, dass man tut, was man will.

Aha-Rufe! Ich höre sie ganz genau, nachdem ihr nun diesen Satz gelesen habt! Ok, also Maria setzt doch Grenzen und stellt Regeln auf und "lässt den Kindern nicht alles durchgehen".... nochmal zurück! Die Grenzen liegen in der Gemeinschaft! Also Grenzen die vorhanden sind, sei es vom Staat geregelt, sei es durch die Stadt in der wir leben, sei es durch die Natur alleine usw.
Es gibt eine kaum überblickbare Anzahl an Grenzen und Regeln die schon vorhanden sind, ohne das wir ihnen noch weitere hinzufügen müssten, wenn sie nicht wirklich notwendig sind. Denn diese kaum überblickbare Zahl müssen unsere Kinder, die so ohne dieses Vorwissen auf unsere Welt kommen, erst einmal aufnehmen und lernen und das dauert! Stellt euch vor ihr arbeitet zukünftig in einem Beruf, den ihr nicht erlernt habt, der ganz viele Sicherheitsvorkehrungen beinhaltet und Benutzeranweisungen an unbekannten, riesigen Apparaturen und der Regularienkalalog nimmt schier kein Ende. Wie fühlt ihr euch? Bräuchtet ihr dann noch weitere Regeln, wie: Alle Kollegen haben eine bestimmte Sitzordnung im Speisenraum und wehe, du hast das nicht sofort verinnerlicht? Mittwochs wird abwechselnd Kuchen mitgebracht und zum Kaffee genascht, wehe du machst da nicht mit! Wie fühlt ihr euch?

Und jetzt zu unseren Kindern: "Das ist mir! Wehe du fasst das an! Lass das! Leg es zurück, es könnte kaputt gehen! Nein, ich mach das alleine! Das dauert sonst zu lang! Ich muss es sonst nochmal machen, weil du es sowieso nicht richtig machst! Du gehst jetzt ins Bett, weil du müde bist!"

Diese Liste könnte ich sicherlich unendlich erweitern und ich weiß, diese Sätze sind niemandem von uns unbekannt... Diese Sätze behindern unsere Kinder, sie diskriminieren sie auch. Wir urteilen über sie und nehmen ihnen ab über ihren eigenen Körper und ihre Bedürfnisse zu entscheiden. Woher will ich wissen, dass sie etwas nicht können? Wenn wir sie es nicht tun lassen? Wie soll etwas klappen, wenn sie nicht dafür üben können? Und das wollen Kinder oft schon früher als wir oder die Gesellschaft denken.

Wieso müssen wir es den Kindern so schwer machen, ihrem inneren Bauplan zu entsprechen und diesem nach zugehen? Wieso müssen wir weitere Regen aufstellen? Sind sie wirklich notwendig?

Kann ich nicht die erste Zeit Gegenstände und Dekoration die mir wichtig sind, die nicht kaputt gehen soll, einfach aus dem Greifbereich meiner Kinder entfernen? Und spare mir somit Nerven und Zeit, meine Kinder daran zu hinden? Muss ich alles "kindersicher" machen? Ist es wirklich sicherer für mein Kind? Oder sichere ich meine Besitztümer, meine Schätze, vor meinem Kind? Hindere ich mein Kind nicht dadurch und schränke es ein? Helfe ich meinem Kind damit in seiner natürlichen Entwicklung? Bin ich dann nicht wieder bei Montessoris Worten:

Wird das Kind in seiner Entwicklung durch das Unverständnis des Erwachsenen gehemmt und gestört, so werden die Energien im Innern des Kindes, die göttliche Mittel zur Menschbildung sein sollten, zur Verteidigung gegen den Erwachsenen benutzt und führen zur Zerissenheit der wachsenden Persönlichkeit, zum Kampf statt zur Liebe.

Das Kind will verstehen, handeln, wachsen, sich entwickeln. Daraus geht hervor, dass, wenn wir versuchen, sein Leben dementsprechend zu gestalten, wenn wir ihm Gelegenheit geben, seinen Charakter und sein Gemüt zu entwickeln, wir es auf die beste Art unterrichten, und dass es ihm dann an Wissen nicht fehlen wird. Dann fehlen ihm auch die Schönheit und die Gesundheit des Körpers nicht, weil auch der physische Körper sich nicht nur vom Brote, sondern auch von der Zufriedenheit des Herzens nährt.

Ich als Erwachsener bin derjenige der entscheidet, der Macht ausüben kann oder auf das Kind und seine Bedürfnisse eingeht. Ich kann es mir und dem Kind unnötig schwer machen, unnötige Regeln aufstellen oder die Umgebung dem Kind anpassen. Das Kind möchte sich in dem Zuhause in dem es hineingeboren wurde auch wohlfühlen und nicht nur Störenfried sein. Es will miteinbezogen werden und lernen, lernen, lernen können. Das ist seine Natur.

Und natürlich gehört auch Frust zum Lernen dazu. Wenn es mal doch nicht möglich ist auf die Bedürfnisse/Wünsche meines Kindes einzugehen, wenn ich nun mal jetzt einen Termin habe und es sich jetzt mit mir fertig machen muss, obwohl es noch weiter spielen wollte. Aber auch hier kann ich versuchen zu entzerren. Vielleicht früher mit dem Umziehen beginnen, vielleicht mein Kind schon miteinbeziehen und es nicht einfach nehmen und umziehen wollen. Kinder sind keine Anziehpuppen. Natürlich wird es auch bei den besten Vorbereitungen mal nicht funktionieren. Der Frust wird aufkommen, das Kind wird wütend sein auf uns, es wird weinen und vielleicht auch toben. Dann sind wir da zum Trösten. Es ist wichtig für es zu wissen, dass wir immer da sein werden.
Aber solche Situationen werden gering sein, wenn das Kind nicht täglich gegen uns ankämpfen muss, um seiner Natur zu entsprechen. Die Frustration wird nicht lange anhalten, wenn das Kind weiß, dass wir nicht grundsätzlich und immer Macht ausüben müssen/wollen, sondern auf es eingehen.
Montessori ist nicht laissez-faire! Maria Montessori orientiert sich am Kind und an seinen Bedürfnissen. Daher wirkt es vielleicht auf viele von uns, als dürften die Kinder über alles bestimmen. Es muss ein Umdenken stattfinden und die Grenzen unserer Gesellschaft werden von den Kindern ganz automatisch durch den täglichen Umgang erlernt, hier sind wir Vorbild!

Durch die Achtung vor seiner schöpferischen Aufgabe, durch das Vorbereiten einer offenbarenden Umwelt werden die Kräfte im Kind gesammelt und nicht zersplittert, wird einer Persönlichkeit zur Entwicklung geholfen, deren innere Freiheit zur freien sittlichen Tat führt. Aus einem Naturgeschöpf wird ein Vernuftsgeschöpf, das durch Sammlung und Stille zum sozialen Menschen heranwächst, das in der Harmonie des Gedankens und der Bewegung, des freien Willens und der Tat seine sittliche Persönlichkeit bildet. Das Geheimnis im Kind wird die Freiheit des Menschen sein.


Alle Zitate stammen aus dem Buch "Grundlagen meiner Pädagogik" von Maria Montessori.

5 Kommentare:

  1. Hallo,
    Irgendwie empfinde ich diese Herangehensweise an die Erziehung als sehr natrürlichen Prozess. Und merke wie mein Sohn (1 1/4) es uns dankt, er ist super zufrieden und wir tragen nicht am laufenden Band irgendwelche Kämpfe aus. Schade, dass allgemein so häufig gegen das Kind gearbeitet wird, anstatt mit ihm. wirklich gelungener Post, danke dafür.
    Lieben Gruß Janina

    AntwortenLöschen
  2. Danke für diesen wunderbaren Artikel! Für mich ist es auch sehr ermüdend, immer wieder begreiflich zu machen, dass das Kind eben nicht einfach "macht, was es will", sondern ich es "machen lasse, so viel ich kann" - beides unterscheidet sich deutlich voneinander.

    Und es ist vollkommener Unsinn, dass so Egomanen herangezogen werden. Die Kinder, die später anstrengen und schwierig sind, sind doch vielmehr die, die ihre Ketten aus Reglementierung und Herumkommandieren sprengen, weil sie ihrer absolut überdrüssig sind. Denn Aufsässigkeit gibt ihnen dann ihre erstrebte Autonomie. Nur dass die Kompromissbereitschaft an dem Punkt schon verloren ist. Die Gesellschaft sieht das "unartige Kind" und denkt, es gab keine Regeln, weswegen es macht, was es will. Dabei macht es das nur, weil es eben zu viele Grenzen und Regeln gab.

    Viele Grüße!
    Danielle

    AntwortenLöschen
  3. Es ist immer wieder so toll von dir zu lesen. :-)
    Deine Beiträge animieren mich fast immer(gerade bei solchen Beiträgen) für neue eigene Blogbeiträge.
    Ich kenne auch ganz viele Menschen in meiner Umgebung die meine "Lässigkeit" sogar Fahrlässig finden! Mein Vertrauen in mein Kind, dinge zu tun, die sonst andere Kinder in dem Alter "einfach nicht machen", scheint total verpönt zu sein. Wir üben zb. schon das allein über die Straße gehen(meine Große wird im Sommer 5), sie kann außergewöhnlich gut mit Zahlen und Buchstaben umgehen. Mein Gott, dann ist sie nachts eben noch nicht trocken, wie andere Kinder. Na und? es kommt, wenn es kommt. :-) Vertrauen scheint in der Gesellschaft verloren gegangen zu sein. Denn nur mit Vertrauen, kann man seinem Kind enselbstbestimmten Alltag erlauben.

    AntwortenLöschen
  4. Hallo,

    ich bin selbst in Montessori-Mentalität aufgewachsen und habe eine Montessori-Grundschule besucht. Ich denke, dass viele Menschen es nicht verstehen wollen bzw. Kritik äußern, weil sich die Ansätze mit dem widersprechen, was sie als Kind an Erziehung erfahren haben. Sich damit zu beschäftigen und zuzustimmen hieße zuzugeben, dass es eine schönere Version der eigenen Kindheit hätte geben können. Und das fällt vielen schwer. Ich denke, der Grundgedanke müsste jedem einleuchten, der sich damit befasst. Mir hat jedenfalls noch nie jemand widersprochen, wenn ich ihm tatsächlich in simplen Worten erklärt habe, worum es geht...

    AntwortenLöschen
  5. Ich kann dir auch nur zustimmen. Habe jetzt am Wochenende auch wieder erstaunt festgestellt, was mein Kind alles kann. Er (gerade erst 3 geworden) wollte unbedingt an die Nähmaschine und auch mal was nähen. Und ich war überrascht, wie gut er das nach einer kurzen Einführung konnte.
    Hätte ich einfach wie man es normal gewohnt ist mit "das kannst du nicht, du bist noch zu klein!" Reagiert, wären wir beide um eine Erfahrung ärmer und er wäre dadurch gefrustet und hätte es nie mehr versuchen wollen.
    Ich bin so froh diesen Erziehungsweg gefunden zu haben :)

    AntwortenLöschen

ACHTUNG: Mit der Nutzung des Kommentarformulars nimmst du die Datenschutzhinweise dieser Website zur Kenntnis und bist damit einverstanden. Wenn du einen Kommentar postest, werden dein Benutzername, deine IP-Adresse sowie Tag und Datum deines Kommentars gespeichert. Du kannst deinen Kommentar jederzeit löschen.